Ora hat zwei Söhne von zwei Männern. Gerade hat sie sich von Ilan, dem Vater ihres älteren Sohnes getrennt, da entschließt sich der jüngere Sohn Ofer, sich für einen freiwilligen Militäreinsatz im Westjordanland zu melden. Ora beschließt daraufhin, mit ihrem Jugendfreund Avram, Ofers Vater, eine Wanderung durch Galiläa zu machen. Sie will Avram von seinem Sohn erzählen. Und sie will unerreichbar sein, für den Fall, dass Ofer etwas schreckliches zustößt.
Wer wie ich viele Hörspiele zu Hause hat, dem wird es ähnlich gehen: In einer jeden Sammlung befinden sich ein paar „unerhörte“ Stücke, will sagen Hörspiele und Hörbücher, die man immer wieder zu hören beginnt, aber aus welchen Gründen auch immer nie zu Ende bringt.
Bei mir ist das zum Beispiel die Hörspielfassung von Thomas Manns Zauberberg, oder auch Walter Adlers 24-Stunden-Hörspiel-Monster Otherland nach Tad Williams. Beides großartige Produktionen, die allerdings volle Konzentration erfordern und einen beim reinen „Durchhören“ mit ihrer Komplexität fast erschlagen.
Und beinahe wäre auch Eine Frau flieht vor einer Nachricht, ein Hörspiel auf drei CDs und mit einer Länge von 210 Minuten, ein solches unvollendetes Exemplar meiner Sammlung geworden. Denn es verlangt von Minute Eins an dem Hörer einiges ab. Wir begegnen am Beginn der jungen Ora, gesprochen von Kathrin Angerer, die während eines Krankenhausaufenthalts die beiden für ihr Leben entscheidenden Männer Avram und Ilan kennenlernt. Nach einiger Zeit schwenkt das Geschehen dann in die nächste Zeitebene. Ora, jetzt gesprochen von Martina Gedeck, ist inzwischen Mutter zweier erwachsener Söhne und begleitet ihren Sohn Ofer zu seinem Militäreinsatz. Daran anschließend bedarf es einer aufwändigen Aktion, um den von seinen eigenen Kriegserlebnissen schwer traumatisierten Avram nach Galiläa zu bringen.
Und dann ist da das Ende der ersten CD. Michael Evers erzählt darin in der Rolle des Avram von seinen furchtbaren Erlebnissen während der Kriegsgefangenschaft.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird auch der anfänglich vielleicht ebenfalls skeptische (und überforderte?) Hörer gebannt lauschen, weil da der Regisseur Norbert Schaeffer in weniger als fünf Minuten eindrucksvoll beweist, wie das Medium Hörspiel zu bewegen, zu schockieren und zu fesseln vermag.
Allein diese fünf Minuten machen dieses Hörspiel zu einem der eindrucksvollsten des Jahres 2012. Aber die Geschichte schafft es auch im weiteren Verlauf, in dem immer mehr Details der verhängnisvollen Dreiecksbeziehung zwischen Ora, Ilan und Avram offenbar werden, den Zuhörer zu packen. Vorausgesetzt natürlich, dass sich derjenige voll auf die Geschichte konzentriert.
Die Hörspielproduktion des NDR ist hochkarätig besetzt, etwa mit Christian Redl als Ilan, Tobias Diakow als junger Avram oder Stephan Schad in einer Nebenrolle als Soldat.
Überstrahlt wird das alles allerdings von einer unglaublich intensiven Performance von Martina Gedeck. Sie führt den Hörer tief in die Gedankenwelt einer Mutter, die aus Angst um ihren Sohn fast verzweifelt und ebenso tief in die von Krieg und Politik durchdrungene israelische Lebenswirklichkeit.
Ein Hörspiel, auf das man sich einlassen muss. Dann aber wird es zu einem echten Erlebnis.
Weitere Infos und eine Hörprobe gibt es hier!
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