Es muss jetzt ungefähr 25 Jahre her sein. Da stand ich eine gefühlte Ewigkeit lang im größten Kaufhaus unserer Kleinstadt und drehte unentwegt ein Exemplar von Stephen Kings Kurzgeschichtensammlung Nachtschicht in den Händen.
Schließlich investierte ich knapp 10 Mark in das Taschenbuch und brockte mir damit einige schlaflose Nächte und Alpträume ein, denn viele der in Nachtschicht versammelten Geschichten haben es wirklich in sich. Wer sich für unerschütterlich hält, der kann gerne mal in Briefe aus Jerusalem oder Der Mauervorsprung reinlesen.
Auch Basar der bösen Träume hat allerhand Schauerliches zu bieten. Es mag allerdings an meinem Alter und dem damit verbundenen langjährigen Konsum von Horrorliteratur und -filmen liegen, das mich gerade die Geschichten ganz ohne übernatürliche Zutaten am meisten beeindruckt haben.
Aber der Reihe nach:
Raststätte Mile 81
King hatte es ja immer schon mit Autos. Und auch in dieser Geschichte kommt das Böse auf vier Rädern daher. Ein menschenfressender Transporter steht am Straßenrand und verspeist alles, was ihm zu nahe kommt. Das ist spannend und gekonnt (aus Kindersicht) erzählt, krankt jedoch etwas an einem unpassenden Akte-X-Ende.
Premium Harmony
Eine ruhige Geschichte, inspiriert vom Werk Raymond Carvers. Ray und Mary sind ein krisengeschütteltes Paar. Eigentlich wollen sie nur kurz an einem Laden halten, um ein Geschenk zu besorgen. Aber mit einem Schlag ist alles anders.
Batman und Robin haben einen Disput
Eine rührende Story, in der ein Mann mit seinem demenzkranken Vater eine Autofahrt unternimmt. Ein Unfall passiert. Und der alte Pop wächst noch einmal über sich hinaus. Wie gesagt: Rührend und mit einem Schmunzeln im Abgang.
Die Düne
Ein alter Richter will schleunigst sein Testament ändern, nachdem er auf einer Insel vor der Küste Floridas eine unheimliche Entdeckung gemacht hat. Gothic fiction im modernen Gewand. Das kann er. Das mag er, der Stephen King. Und krönt es zur Freude des Hörers mit einer bitterbösen Schlusspointe.
Böser kleiner Junge
Erschien erstmalig exklusiv in Deutschland und Frankreich nach Stephen Kings Europatour im Jahr 2013. Ein kleiner Junge macht einem Mann über Jahre hinweg das Leben zur Hölle, bis der ihn schließlich umbringt. Eine der schwächeren Geschichten innerhalb der Sammlung, da zu breitgewalzt und überraschungsarm. King wie man ihn kennt und schon zu oft gelesen hat.
Ein Tod
Im Wilden Westen wird ein Farmer angeklagt, ein kleines Mädchen wegen einer Silbermünze ermordet zu haben. Dem Sheriff kommen Zweifel an der Schuld des Angeklagten.
Eine Perle, lakonisch erzählt und doch sehr zu Herzen gehend. Bis hin zum bitteren Ende, das wieder einmal beweist, dass das Böse keine übernatürlichen Helfer nötig hat, um sich zu seiner vollen Gänze zu entfalten.
Die Knochenkirche
Das erste Gedicht innerhalb der Sammlung. Es geht um die Expedition zu einem Elefantenfriedhof. Ansonsten war das nicht so meins.
Moral
Nora und Chad erhalten ein unmoralisches Angebot von einem wohlhabenden Mann. Sie sollen für viel Geld eine Straftat begehen und filmen.
Bewundernswert, wie eindrücklich King von den Gewissensnöten des jungen Paars zu erzählen vermag.
Leben nach dem Tod
Was wäre wenn? Ein Mann stirbt und erhält im Jenseits die Wahl: Er darf sein Leben noch einmal genau so leben wie zuvor oder endgültig sterben.
Eine interessante Idee, der es insgesamt aber etwas an Pfiff und Überzeugungskraft fehlt
Ur
Ein Lehrer bekommt einen magischen Kindle per Post. Dieser erlaubt ihm Einblicke in andere Welten. Anfangs ist die Begeisterung groß, später aber muss der Besitzer des Lesegeräts erkennen, dass seine Handlungen unabsehbare Folgen haben.
Nett und unterhaltsam, etwas für Fans von Fringe und Twillight Zone.
Herman Wouk lebt noch
King nimmt einen schweren Autounfall als Inspiration und steckt uns mit ins Innere des Wagens, in dem eine Familie nichts ahnend auf die große Katastrophe zurast.
Ein Meisterwerk. Wie King aus dem Nichts die Biografie einer amerikanischen Alptraumfamilie ersinnt und sie mit Vollgas in das Leben zweier befreundeter Dichter rasen lässt, das ist ganz große Erzählkunst. Und wieder ganz ohne Hexen, Geister und Dämonen.
Ein bisschen angeschlagen
Bradleys Frau Ellen fühlt sich seit ein paar Tagen nicht gut. Bradley geht weiter seiner Arbeit in einer Werbeagentur nach. Aber eines Tages fangen die Nachbarn an, sich zu beschweren.
Eigentlich sollte man gar nichts über dieses unverschämt gut erzählte Glanzstück verraten. Jedes Wort ist ein Spoiler zu viel. Gänsehaut ist auf alle Fälle garantiert!
Blockade Billy
Diese Geschichte über ein junges Sporttalent mit einem dunklen Geheimnis wird für Nicht-Baseballfans vielleicht eine Herausforderung. Ich fand sie insgesamt aber sehr gelungen und rund erzählt. Fast schon eine Novelle.
Mister Sahneschnitte
Ein Mann erzählt in einem Altersheim vom Ausbruch der AIDS-Epidemie Anfang der 1980er Jahre in New York. Und von Mister Yummy, mit dem der Tod kommt.
Nicht großartig, aber okay.
Tommy
Noch´n Gedicht. Auch das hätte es nicht gebraucht.
Der kleine grüne Gott der Qual
Ein alter, reicher Unsympath liegt schmerzgeplagt im Krankenbett. Niemand scheint ihn von seinen Qualen befreien zu können, bis ein Wundeiler auftaucht, der über magische Fähigkeiten verfügt.
Eine auf eine fiese Art und Weise amüsante Geschichte, deren unfreiwillig komisches Ende allerdings nicht so recht zum Gesamtpaket passen mag.
Jener Bus ist eine andere Welt
Ein Mann steht im Stau und wird Zeuge eines Mordes im Bus auf der Fahrspur gegenüber.
Hitchcock hätte daraus einen Thriller gemacht, King macht daraus einen unbefriedigenden Lückenfüller.
Nachrufe
Mike schreibt für das Online-Klatschblatt Neon Circus (fiktive) satirische Nachrufe. Eines Tages erkennt er aber, das seine Texte tatsächlich Menschen das Leben kosten können.
Wieder wird eine interessante Idee zu breit getreten, allerdings entschädigt die gelungene Schlusspointe für die lange Wartezeit.
Feuerwerksrausch
Zwei Familien liefern sich einen Wettbewerb: Wer fackelt das eindrucksvollste Feuerwerk ab?
Vielleicht die komischste Story innerhalb der Sammlung. Spannend und intelligent in der Rückschau erzählt, und mit einem abschließenden Knalleffekt im besten Sinn des Wortes.
Sommerdonner
Zum Schluss lässt King die Welt untergehen. Und er rührt uns noch einmal gewaltig an mit dieser Geschichte über einen Mann und seinen Hund im Angesicht der Apokalypse.
Alles in allem eine empfehlenswerte Sammlung, deren wenige Aussetzer man problemlos verkraften kann.
David Nathan überzeugt einmal mehr als deutsche Stimme von Stephen King, rutscht allenfalls bei der Interpretation etwas einfach gestrickter Charaktere immer mal wieder ins Berlinerische ab.
Aber auch das kann man verkraften. Mit David Nathan würde ich mich jederzeit wieder für 20 Stunden auf den Basar der bösen Träume begeben.
Weitere Infos gibt es hier!
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